Können wir heute politische Abläufe durchschauen?

 14.10. 2014

 

In vielen seiner zeitgeschichtlichen Vorträge, vornehmlich in den Jahren während des 1. Weltkriegs, hat Steiner geradezu exemplarisch die Vorgehensweise zum Verständnis aktueller politischer Vorgänge entwickelt. Das von ihm dabei konstatierte größte Problem der Zeitgenossenschaft ist die „große Unaufmerksamkeit der Menschen“, die nicht auf das achten, worauf sie achten sollten. Er sagt sogar: „man schaut nicht gern auf Wichtiges“! Und solche Tatsachen sind es, mit denen selbstverständlich an bestimmten politischen Stellen gerechnet wird. Nun wird ja heute in unseren Kreisen oft wegen der Brisanz von Betrachtungen zu aktuellen politischen Themen davor zurück geschreckt. Solche Bedenken sind nachvollziehbar, doch Steiner hat uns deutlich gezeigt, daß dies einem wachen Zeitgenossen nicht zukommen sollte. Im Gegenteil bin ich davon überzeugt, dass gerade die zeitnahe Aktualität von politischen Prozessen und Abläufen uns eine einmalige Chance eröffnet, durch intensives Eintauchen in diese Vorgänge ein Instrumentarium zu entwickeln, welches uns sowohl langfristig Abläufe durchdringen als auch zukünftige politische Entwicklungsschritte voraussehen lässt.

 

Nun sind wir täglich von einer Flut von Informationen, Bildern und Nachrichten überrollt und man fragt zu Recht: Wie kann man da überhaupt durchblicken und welcher Information soll man Glauben schenken? Zunächst ist schon viel gewonnen, wenn wir erkennen, dass eine solche Informationsüberflutung vor allem ein geniales Mittel ist, um zu Unaufmerksamkeit und Oberflächlichkeit zu erziehen. Nach dem Motto: Wer viel hört oder zu wissen glaubt, verliert den Blick für das Wesentliche! Aufmerksam werden auf die Unaufmerksamkeit, die in unserer Zeit herrscht, kann ein erster Schritt sein, um sich zu einem wachsameren und bewussteren Zeitgenossen heranzubilden.

 

Gehen wir diesen Weg, wird es uns allmählich gelingen, scheinbar unzusammenhängende, zeitlich weit auseinander liegende Ereignisse zusammen zu schauen, so dass aus diesen vielen Einzelheiten ein erstes, grobes Bild entsteht. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel:

 

Bei seiner richtungsweisenden Rede in Warschau am 3.6.14 rief Obama u.a. die NATO-Mitgliedstaaten zur Erhöhung ihrer Militärhaushalte auf.

 

Am 16.8. konstatiert der polnische Präsident: „Willst du Frieden, rüste zum Krieg!“. Mittlerweile hat der Sejm eine Erhöhung des Verteidigungsetats für 2015 beschlossen.

 

Am 1.9. sagt der deutsche Präsident in Warschau: “Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen“.

 

Ende September gibt es in Deutschland eine Medienkampagne über den maroden Zustand der deutschen Militärausrüstung. In diesem Zusammenhang weist die deutsche Verteidigungsministerin auf eine mögliche Notwendigkeit zur Erhöhung der Militärausgaben hin.

 

Beim Nicht-NATO-Mitglied Schweden taucht Ende Oktober vor der Küste ein „Phantom-U-Boot“ auf. Diese undurchsichtige Affäre führt dazu, dass der schwedische Ministerpräsident eine Erhöhung der Ausgaben für Verteidigung ankündigt und das Parlament wenige Tage danach eine deutliche Mehrausgabe für den Verteidigungshaushalt 2015 beschließt.

 

Wir sehen: Immer zur ´rechten Zeit´ taucht ein spezieller Impuls vor allem in solchen Ländern auf, die traditionell nicht zu den militärischen Vorreitern gehören, mit dem Resultat, dass genau das eintritt, was am Anfang gefordert wurde.

 

Selbstverständlich ist es notwendig, Vertrauen in das Gute der Weltentwicklung zu haben, aber, wie ich meine, nur in dem Sinne, dass dieses Gute wirken kann, wenn wir unseren aktuellen Beitrag leisten. Schließlich ruhen alle Hoffnungen der ´guten Geister´ auf einem aktiven, geistig wachen und wachsamen Menschen der Gegenwart.

 

Um die Geschichtsentwicklung unserer Gegenwart erfassen zu können, müssen wir bedenken, dass spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein neuer Impuls in der Geschichte zu wirken beginnt. Gab es bis dahin im Wesentlichen Affinitäten und Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Völkern, die durchaus wechseln konnten, wurde ab dieser Zeit erstmals der Aspekt einer zunehmenden Blockbildung erkennbar. Zunächst von England aus, nach dem 2. Weltkrieg aber zunehmend von Amerika, setzten Impulse ein, die weltgeschichtlichen Fäden so zu spinnen, dass sich weltumspannend ein englisch-amerikanisches Selbstverständnis sowohl in den sozialen wie auch institutionellen und wirtschaftlichen Verhältnissen durchzusetzen begann. Steiner hat auf diesen Prozess schon vor einhundert Jahren mehrfach hingewiesen. Doch erregen solche Aussagen heute bei vielen Zeitgenossen nur Achselzucken oder eine krasse Diffamierung. Diese kreiert mit dem Generalbegriff „Verschwörungstheoretiker“ ein ideales Etikett, um eine eigentlich dringend notwendige Auseinandersetzung mit diesem Thema zu vermeiden. Hat man einen Zeitgenossen gesellschaftlich erst einmal in eine solche Ecke gestellt, kann man der gesellschaftlichen Grundkrankheit der heutigen Zeit, der Unaufmerksamkeit, problemlos weiter frönen.

 

Die Frage, ob es geheime Absprachen und große Entwicklungsstrategien im politischen Weltgeschäft gibt oder nicht, ist durchaus keine theoretische und unberechtigte. Es handelt sich um einen langsam sich entwickelnden Prozess, der erfassbar ist, wenn wir den Gesamtimpuls als Wahrheit zu Grunde legen. Die Vielzahl konkreter, politischer Ereignisse gilt es zu systematisieren und an den sogenannten Zentralimpulsen auszurichten. Zu solchen gehören u.a. neben oben erwähnter Obama-Rede sicher auch die Bush-Formulierung von der „neuen Weltordnung“, die Folgen des 11.September oder Deutschlands Paradigmenwechsel in Bezug auf Militärexporte in Krisengebiete. Interessanterweise finden sich bei näherem Hinsehen auch immer wieder Dokumente, die mit einer erstaunlichen Präzision und Offenheit bereits Jahrzehnte vor dem Eintritt bestimmter Ereignisse diese beschreiben und darstellen. Einige Beispiele seien hier angeführt.

 

In der Weihnachtsausgabe von 1890 der englischen Wochenschrift „Truth“ erscheint ein Aufsatz mit dem Titel „The Kaiser´s Dream“ mit einer darin enthaltenen Europakarte, auf der die neuen staatlichen Konstellationen nach einem kommenden Krieg dargestellt sind. Im Artikel wird ein fiktives Interview mit dem deutschen Kaiser geführt, der dabei u.a. vom verlorenen Weltkrieg und seiner Abdankung spricht. Auf der erwähnten Karte gibt es eine polnische Republik (1890 existierte Polen als Staat bereits seit 100 Jahren nicht mehr) genauso wie ein viergeteiltes Deutschland (nach 1945 eine Realität). Hier sind Tatsachen vorweg genommen, die zur Zeit dieser Zeitungsausgabe weder eingetreten noch schon real absehbar waren. Erst eine bzw. zwei Generationen später erlangen sie Realität. Für unser strategisches Verständnis bleibt festzuhalten, dass wir einsehen lernen müssen, dass Entwicklungen langfristig vorausgedacht, geplant und an eher nicht zu erwartender Stelle sogar veröffentlicht werden.

 

Einen weiteren Mosaikstein finden wir in einem fundamentalen Werk des amerikanischen Geschichtsprofessors und langjährigen Leiters der US-amerikanischen Diplomaten-Kaderschmiede in Georgetown/Washington, Carroll Quingley. Er, der u.a. Lehrer Bill Clintons war, hat in seinem bereits 1948 geschriebenen, aber erst 1981 veröffentlichen Buch „The Anglo-American Establishment“ sehr detailliert die Insidersicht der Weltentwicklungen im 20. Jahrhundert dargestellt. Hier kann man sozusagen aus einer offiziellen Quelle zum ersten Mal staunend zur Kenntnis nehmen, wie von einem inneren Zirkel von Menschen, die sogar namentlich genannt und deren persönliche Entwicklungswege und Motive deutlich gemacht werden, die strategischen, politischen Zielsetzungen vorgedacht, erarbeitet und in den entsprechenden Kanälen zur Umsetzung gebracht werden. Hier erlangen die viele Male von Steiner erwähnten freimaurerischen Bruderschaften eine personenbezogene Wirklichkeit und treten aus der Anonymität heraus. Von Quingley wissen wir, daß der „Council of Foreign Relations“, das international hoch angesehene US-Institut für strategische Studien, das wichtigste Organ dieser „ersten Thinktank Gruppe“ ist. In deren Zeitschrift „Foreign Affairs“ erscheinen zu gegebener Zeit immer wieder zukunftsweisende Artikel zur weiteren Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik. Samuel Huntingtons Aufsehen erregende Thesen vom zukünftigen Kampf der Kulturen wurden hier erstmals publiziert. Der Balkan, Afghanistan, der Irak und jetzt IS sind die Schlagworte, die Huntingtons Thesen mit Leben zu füllen scheinen.

 

Ein Aufsatz von 1995 in der gleichen Zeitschrift befasst sich mit den Zukunftsperspektiven der Staaten, die sich aus der sowjetischen Union herausgelöst haben. Zu denen gehörte auch die Ukraine. Es werden die Gründe für die geopolitischen Auseinandersetzungen um die Ukraine dargelegt, die erst 10 Jahre später mit der ´orangenen Revolution´ dem unbeteiligten Zeitgenossen erstmals vor Augen treten. Und der Autor spricht als notwendige Konsequenz von der Zerschlagung des Landes in einen West- und einen Ostteil.

 

Solche hintergründigen Abläufe können einem zunächst die eigene Ohnmächtigkeit vor Augen führen. „Es ist ja alles so schlimm; ich kann ja doch nichts dagegen tun!“, denkt so mancher und geht zur Tagesordnung über. Aber nur, wenn wir wach sind und ein Gefühl entwickeln für die roten Fäden der politisch-gesellschaftlich-historischen Entwicklungen unserer Zeit, machen wir einen ersten Schritt, um uns aus der Ohnmacht zu befreien. Steiner sagt: „Es muss aber in dieser Welt der Unwahrheit wenigstens eine kleine Gruppe von Menschen geben, die mit tiefsten Ernst danach strebt, dies Gewebe von Unwahrheiten zu durchschauen, und lernen müssen diese Menschen, auf alles, was geschieht, so hinzuschauen, dass man das innere Gefüge, die verborgen liegenden Kräfte des äußeren Geschehens sucht.“

 

Nur ein die Wahrheit suchendes, durchschauendes und sich um geistigen Austausch bemühendes Denken kann Heilmittel sein gegen die immer stärker werden wollenden dunklen Kräfte unserer Zeit.